Endlich im Schreibfluss(?)

Person schreibt etwas auf einer langen Zettel.
Wer kennt das nicht: Da sitzt man endlich hochmotiviert am Schreibtisch, doch der Text will einfach nicht an Umfang gewinnen. Das liegt vielleicht daran, dass wir neben unserem Schreibprojekt noch mit etwas anderem Platz genommen haben: bestimmten Vorstellungen darüber, wie Schreiben funktioniert bzw. ablaufen sollte. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Schreibmythen.
Wie alle Mythen sind gerade auch Schreibmythen Kompensationsmechanismen. Und obendrein ziemlich lausige! Denn indem wir ihnen anhängen, verlieren wir langfristig unsere Eigeninitiative als Schreibende. Wie schon im Begriff der „Schreibmythen“ anklingt, veranlassen sie uns, den Schreibprozess mystisch aufzuladen und dadurch zu überhöhen. Das aber ist Gift für unser Selbstvertrauen – wo wir doch gerade beim Schreiben eine ganze Menge Selbstvertrauen benötigen! Wer seinen eigenen Gedanken nicht traut oder sie gar für trivial hält, ist schließlich wenig geneigt, selbige zu Papier zu bringen. Deshalb ist es an der Zeit, einige der gängigsten Schreibmythen zu entlarven, damit unser Schreibprojekt Fahrt aufnimmt!

Schreibmythos Nr. 1: „Es gibt den perfekten Zeitpunkt, um mit einem Schreibprojekt anzufangen.“ (aka „Warten auf Godot“)

Dieser romantische Glaubenssatz ist vor allem unter Schreibneulingen populär. Romantisch ist dieser Mythos deshalb, weil er Anklänge an den Geniekult des späten 18.Jahrhunderts birgt. Warteten Geistesgrößen wie Goethe und Schiller etwa nicht darauf, von der Muse geküsst zu werden? Und sollte nicht auch ich auf eine Eingebung warten, die mir die ultimative Idee für meine Hausarbeit oder mein geplantes Kapitel liefert?
Jein. Zweifellos gibt es Tage, an denen wir uns inspiriert fühlen und uns erwartungsvoll ob all der wunderbaren Dinge, die wir von unserem Kopf aufs Papier (oder den Computerbildschirm) übertragen werden, an den Schreibtisch setzen. Manchmal bringen wir so tatsächlich etwas zustande. Dies sind glückliche, aber leider seltene Momente. Und gerade weil sie so selten sind, entwickeln wir das tückische Mantra von dem perfekten Schreibzeitpunkt. Man könnte es auch die Suche nach der (bereits) verlorenen Zeit nennen. Denn genau das geschieht, wenn wir Schreibmythos Nr. 1 Glauben schenken: Indem wir auf den perfekten Zeitpunkt warten, um mit unserem Schreibprojekt zu beginnen, verlieren wir die normale, alltägliche Zeit aus den Augen, die wir tatsächlich auf das Schreiben verwenden könnten.
Person steht mit dem Rücken zum Betrachter auf einem Berg, im Hintergrund der Sonnenaufang.
Tatsächlich müssen sich Fans und Verfallene von Schreibmythos 1 einer unbequemen Wahrheit stellen: Inspiration lässt sich herbeiführen. Wir sind nicht dazu verdammt, auf sie zu warten oder sie herbeizusehnen. Dafür müssen wir uns nicht einmal irgendwelche innovativen (lies: unnötig komplizierten) Kreativitätstechniken angewöhnen. Es genügt, draufloszuschreiben. Gerne auch nach einem Stunden- bzw. „Schreibplan“. Denn es ist nicht das Warten, das uns auf Ideen bringt, sondern das Schreiben bzw. die Auseinandersetzung mit unserem Thema.
Nahezu gleichzeitig mit Schreibmythos Nr. 1 lässt sich somit auch der eingangs erwähnte Geniekult entzaubern: Goethe und Schiller (wie unzählige andere, produktive Schriftsteller*innen) waren unermüdliche Vielschreiber. Der französische Autor Émile Zola zum Beispiel folgte dem populären Grundsatz „nulla dies sine linea“, d.h. für ihn verging kein Tag, ohne nicht wenigstens eine Zeile zu schreiben. Anders hätte er vermutlich keinen zwanzigbändigen Roman-Zyklus vollenden können. Erfahrene Autor*innen warten nicht auf Inspiration, sondern führen sie aktiv herbei – indem sie schreiben.

Schreibmythos Nr. 2: Professionelle Texte entstehen in einem professionellen Umfeld.

Der Kollege im Nebenbüro hat schon wieder gehustet. In der Institutsbibliothek hämmern alle auf ihre Laptops ein. Und zuhause am eigenen Schreibtisch wartet der natürliche Feind der Hausarbeit – YouTube. Wie soll man da einen wissenschaftlichen Text schreiben?! Vielleicht, indem wir unterschiedliche Schreiborte ausprobieren! Es ist nämlich ein Trugschluss, dass gute Texte nur in einem bestimmten Umfeld (z.B. einem Büro oder Bibliothek) entstehen können. Stattdessen sollten wir weniger auf unseren Text als vielmehr auf uns selbst achten und uns dabei fragen: Unter welchen Umständen fühle ich mich wohl (und frei) genug, um mit dem Schreiben zu beginnen? Wenn wir mit einer Umgebung hadern, neigen wir nämlich zum Prokrastinieren.
Bildschirm steht mit der Rückseite auf einem Schreibtisch, im Hintergrund ein volles Wandregal mit Büchern, Ordnern, etc.
Vielleicht sind Sie ein ähnlich geräuschempfindlicher Mensch wie ich und warten nur angstvoll auf die nächste akustische Verschmutzung durch Ihre Mitmenschen, anstatt sich auf das Schreibprojekt einzulassen? Oder Ihnen hilft ein gewisses Hintergrundrauschen dabei, in den Schreibfluss zu kommen? Apropos Schreibfluss: Ein ehemaliger Kollege von mir gehörte zur Sorte der Vielpendler. Im Laufe der Zeit hat er sich so sehr daran gewöhnt, im Zug zu schreiben, dass er sich auch an seinen freien Nachmittagen einfach in eine Bahn gesetzt hat. Seinem Dissertationsprojekt hat es nicht geschadet…
Gute Texte können überall entstehen. Und wenn ein Arbeitsumfeld für uns nicht funktioniert, sollten wir so frei sein, uns das auch einzugestehen und nach Alternativen Ausschau zu halten. Warum nicht einfach ein paar Sätze (oder vielleicht sogar Seiten?) in unserem Lieblingscafé versuchen? Oder im Park? Oder im besonders schönen Wohnzimmer einer guten Freundin? Wohlgemerkt: keiner dieser möglichen Arbeitsorte ist durchweg _der_ Arbeitsort für alle Schreibphasen. Stattdessen lässt sich der Arbeitsort für mein Schreibprojekt je nach eigener Tagesform und Schreibziel variieren.

Schreibmythos Nr. 3: „Um effektiv an meinem Schreibprojekt arbeiten zu können, benötige ich möglichst viel freie Zeit am Stück.“

Sehr verbreitet vor allem unter Promovierenden (ratet mal, woher ich das weiß…). Eine Abschlussarbeit oder Dissertation bildet schließlich einen Meilenstein in unserer akademischen Laufbahn. Da liegt es nahe, einem solchen Projekt alles andere unterordnen zu wollen – wenn, ja wenn wir in unserem dicht getakteten Leben nur die dafür erforderliche Zeit dazu fänden! Vom Pro-Seminar bis zum Forschungskolloquium überall der gleiche Konflikt: man würde so gerne loslegen, aber es fehlt einfach an hinreichend großzügigen Zeitspannen, um so richtig in die Materie einzutauchen. Wenn doch endlich Semesterferien wären! Doch die Semester ziehen ins Land und die alles entscheidenden Zeitfenster wollen sich einfach nicht öffnen. Und wenn sie endlich da sind, tun wir alles Mögliche – außer an unserem Schreibprojekt zu arbeiten. Oder wir verbringen den ersten Tag eines langen Wochenendes damit, unsere Dateien zu sortieren oder uns mühsam wieder in Exzerpte einzudenken, die wir vor langer Zeit einmal erstellt haben. Aber die Seiten bleiben beunruhigend leer. Wie kann das sein?
Sieben unterschiedlich ablaufende Sanduhren mit schwarzem Sand.
Das Problem liegt in unserer Erwartungshaltung: Der Glaube, dass nur in ausreichend Zeit etwas Sinnvolles zu Papier gebracht werden kann, führt dazu, dass wir gar nicht erst anfangen. Und uns zu stark unter Druck setzen, wenn wir uns endlich zum Schreiben aufraffen – nach dem Motto „Jetzt muss sich aber etwas tun!“
Tatsächlich verhält es sich mit den großzügigen Zeitfenstern wie mit dem perfekten Zeitpunkt, um endlich mit dem Schreiben anzufangen (s.o.): Sie kommen nicht von allein. Und falls uns die Umstände nicht die Möglichkeit geben, viel freie Zeit am Stück für das Schreiben zu reservieren, müssen wir mit dem arbeiten, was wir haben: etwas freie Zeit hier und da. Dies ist jedoch kein Grund zu verzweifeln. Anstatt auf die sagenumwobene „freie Zeit“ zu warten, setzen wir uns bewusst „Schreibzeiten“ – Termine, an denen wir schreiben, komme was wolle. Diese Termine können auch kurz ausfallen. Entscheidend ist nicht die Dauer, die ich auf mein Schreibprojekt verwende, sondern die Kontinuität, mit der ich es verfolge. Es kann daher sinnvoller (und entlastender) sein, dreimal die Woche nur jeweils eine Stunde (oder gar eine halbe) aufs Schreiben zu verwenden, als mich am Wochenende oder im Urlaub am krampfhaften „binge-writing“ zu versuchen. Wenn ich regelmäßig an meinem Schreibprojekt arbeite, ist es mir zudem geistig deutlich präsenter, als wenn ich ihm nur alle paar Tage oder Wochen Zeit widme. Entsprechend verringert sich die Zeit, die ich brauche, um mich in mein Thema wieder hineinzufinden („Wo war ich stehen geblieben? Was steht als Nächstes an?“). All das spart wertvolle Schreibzeit – Zeit, die wir sonst so verzweifelt suchen.
Wir unterstützen Sie dabei, das Schreiben zu entmystifizieren:
Wenn Sie sich beim Schreiben blockiert fühlen, und keine Ahnung haben, warum, kann eine individuelle Schreibberatung klärend helfen.

Regelmäßige Schreibzeiten finden Sie in unseren Schreibgruppen für Studierende und Promovierende.

Die Workshops von Schreibmaschine und Schreibzentrum wirken Schreibmythen entgegen, Sie bekommen z.B.: Anregungen zu unterschiedlichen Schreib- und Arbeitsstrategien oder können Ihr Schreibprojekt planen.

Probieren Sie als Schreibort doch einmal das Schreibcafé aus!
Bildnachweis: Titelbild: Nadine Lordick | Übrige: Adobe Express
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Janelle Pötzsch
Dr. Janelle Pötzsch gehört zum Schreibzentrum und berät in der "Schreibmaschine" Studierende der Ingenieurwissenschaften zum fachspezifischen Schreiben.

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