Sie sitzen in der Falle. Weil Sie Expert*in Ihres Fachs sind. All Ihr Wissen, Ihre Kompetenzen, Ihr fachliches Renommee hat Sie in diese Situation gebracht. Und dann hat sie zugeschnappt, die Vollständigkeitsfalle.
Vollständigkeit vs. Gründlichkeit
Mit dem Begriff „Vollständigkeitsfalle“ bezeichnet Prof. Dr. Martin Lehner eine zu hohe Stoff-Last für Studierende. Er wirft die These auf, dass eine höhere Stoffmenge zu einer geringeren Lernqualität führen könne. Denn: Der Versuch, alle Wissensinhalte vollständig zu vermitteln, führe zu einer zu großen Komplexität.
Natürlich könnten Sie jetzt argumentieren, wer Wesentliches vom Unwesentlichen trenne, der vereinfache den Lernstoff zu sehr. Deswegen spricht Lehner davon, dass Inhalte auf den Punkt zu bringen „eine hohe Kunst“ sei. Um diese zu lernen, empfiehlt Lehner eine „Weniger-ist-mehr“-Haltung.
Setzen wir mal Vollständigkeit und Gründlichkeit an zwei entgegengesetzte Pole.
Vollständigkeit ist gekennzeichnet durch einen fachsystematischen oder ggf. chronologischen Ansatz und eine quantitative Orientierung („Je mehr Stoff, desto besser.“)
Gründlichkeit zeichnet sich durch die Reduktion auf „den fachlichen Kern und das zentrale Anliegen“ aus, mit Fokus auf das fachliche Denken und fachtypisches Lernen („Gründlichkeit setzt auf exemplarisches Lernen und fachliche Prototypen.“)
Bildquelle: eigene Darstellung
Wo genau Sie sich auf dem Kontinuum zwischen den Polen Vollständigkeit und Gründlichkeit positionieren, hängt u.a. von Ihrer Zielgruppe und der verfügbaren Zeit ab. Deshalb sei darauf hingewiesen, dass es weder ein allgemeingültiges „Rezept“ gibt, noch Sie sich immer an demselben Grad der Reduktion orientieren müssen. Sie können gute Gründe für eine (möglichst) vollständige Darstellung von Fachinhalten haben, Ihren Stoff zurückhaltend reduzieren, eine systematische Reduktion vornehmen, oder radikal alles aus der Stoffvermittlung streichen, was nicht zu den Kernbotschaften gehört.
Auch müssen sich Vollständigkeit und Gründlichkeit nicht gegenseitig ausschließen: Exemplarische Beispiele lassen sich oftmals danach auswählen, dass sie stellvertretend für das Ganze stehen. Sie gehen vom Grundsätzlichen aus an einigen Stellen in die Tiefe, um diese Beispiele darzustellen. Das wird in der Didaktik gerne als “Tiefenbohrung” bezeichnet, beruhend auf Lehner und anderen Autor*innen.
So entkommen Sie der Vollständigkeitsfalle. Denn: Wissenschaft lebt von stets neuen Erkenntnissen, die einen alten Wissensstand erweitern, neue Fragen aufwerfen oder alte Resultate nichtig machen. Wie oft gab es, seit Sie in Ihrem Fach lehren, Veränderungen im Wissensstand? Verfügen Ihre Kolleg*innen, die zu anderen Facetten Ihre Fachs forschen und lehren, über genau denselben Wissensstand zu Ihrem Themenschwerpunkt wie Sie?
Sie sehen: Die Idee der Vollständigkeit ist in der Wissenschaft zumeist hinfällig. Und damit in der Lehre ebenso.
Noch Fragen?
Viele Tipps und Tricks zur didaktischen Reduktion von Stoff finden Sie in unserem LEHRELADEN-Beitrag.
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Julia Philipp
Julia Philipp ist verantwortlich für den LEHRELADEN des Zentrums für Wissenschaftsdidaktik und beschäftigt sich hauptsächlich mit prüfungsdidaktischen Themen. Sie konzipiert und leitet Fortbildungen zum Thema Prüfen und zu anderen Themen rund um die Lehre, z.B. kreativen Lehr- und Lernmethoden.
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